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Introduction to the work of NINIA SVERDRUP by Peer Golo Willi – deutsch

Kontrollierte Zufälle und neue Realitäten

 

Der Zugang zum Werk der Künstlerin Ninia Sverdrup kann wohl über drei Wege erfolgen: über die Realität als Ausschnitt, über die Realität aus Bild und Klang sowie über die Realität in Zeit und Raum. Am Ende dieser Wege steht immer eines: das Aufeinandertreffen von Zufall und Kontrolle.

 

Sverdrups Videoreihe Urban Scenes (IV-XII, 2005-2011) fängt alltägliche Geschehnisse und Handlungen in städtischer Umgebung ein: auf der Straße, im Park, an Bahnhöfen, Imbissbuden oder Tankstellen. Von einem fixen Standpunkt der Kamera aus werden die banalen Szenen für den Betrachter zunächst schlicht beobachtet. Und immer bleibt es der Ausschnitt einer sonst nur flüchtig erfassten Szenerie, der mit Beharrlichkeit beschattet wird. Menschen und Fahrzeuge bewegen sich innerhalb dieses Ausschnitts, mitunter tauchen sie wie autonome Elemente auf neuer Ebene plötzlich auf, verschwinden wieder, abermals plötzlich oder als Ausblendung, wie bei Urban Scenes XII: Petrol Station (2011).

 

Jedes dieser Videos läuft als Endlosschleife, ohne dass der Schnitt bemerkbar ist. Die Wiederholungen auch einzelner Handlungsfragmente erscheinen wie Aneinanderreihungen vager Déja-vu-Eindrücke und verwandeln die Szenerie zu einer Bühne für sinnfreie Spiele. Die Absurdität dieser Veduten des Gegenwärtigen wird noch wunderlicher, wenn Sverdrup in digitaler Bearbeitung Spiegelungen von Architekturelementen einbaut, die erst auf den zweiten oder dritten Blick ins Auge fallen (Urban Scenes XI: Last Station, 2009).

 

Den Ton dieser Videoaufnahmen, den man bei der Betrachtung der Bilder aufgrund von Alltagserfahrungen erwarten könnte, bekommt man jedoch nicht zu hören. Sverdrup stellt ihn stattdessen im Studio nach. Dabei geht sie selektiv vor: Nur einzelne Geräusche wie Schritte, das Klackern von Glasflaschen, einzelne Fahrzeuge oder Schlüssel, die Türen öffnen, sind nachträglich erzeugt, rekonstruiert und in die Szenen integriert. Die Geräusche, die mit diesen Geschehnissen verbunden sind, erscheinen auf diese Weise konzentriert, überzeichnet, viel zu präsent und dadurch unwirklich. Überraschend ist diese klangliche Präsenz insbesondere, wenn auf die räumliche Entfernung einzelner Handlungen offenbar keine Rücksicht genommen wird: Auch Dinge, die weit entfernt zu sehen sind, werden klanglich in den Vordergrund geschoben, wie zum Beispiel die Federballspieler in Urban Scenes V: Park (2005).

 

Gleichzeitig fehlen alle Geräusche der Umgebung, Verkehr, Stimmen, sie scheinen ausgeblendet. So erhalten vermeintliche Störgeräusche, die im Alltag im Grunde keineswegs stören, weil sie kaum wahrgenommen werden, eine neue Präsenz durch ihre Abwesenheit. Die Atmosphäre, die hier entsteht, erzeugt paradoxerweise durch ihre scheinbare Unwirklichkeit eine neue, konzentrierte und kontrollierte Wirklichkeit, die den Blick und die Wahrnehmung auf eine Art Parallel-Welt lenkt.

 

Der Fokus liegt also auf der Existenz des Abwesenden, der Stille, der Leere. Mit der Veränderung der Wahrnehmung von Zeit und Raum und dem damit verbundenen, augenscheinlichen Verlust von Rationalität erfährt die Leere hier eine Aufwertung, durch die die Zeit zur Raumerfahrung wird und sich die Zeiterfahrung relativiert.

 

Sverdrup hat sich bereits früh mit der Dimensionalität von Zeit und Raum auseinander gesetzt und in dem Konzept des Ma, das in der japanischen Kultur und Denkweise seit Jahrhunderten verwurzelt ist, eines gefunden, das ihren Empfindungen näher kommt als die tradierten westlichen Konzepte, sieht es doch den Raum nicht als statisch und die Zeit nicht als linear an. Ma begreift die räumlichen Dimensionen als Teil der zeitlichen Dimension und umgekehrt. In Sverdrups Werk scheint es, als wolle sie die Zeit durchmessen, um sie als Zeit-Erfahrung in das vorhandene Koordinatensystem räumlicher Wahrnehmung einzufügen. Es geht bei diesem Prinzip also, anders ausgedrückt, um die Verschmelzung der zeitlichen Ebene mit der räumlichen, d.h. der bildlichen Ebene.

 

Die Kontrolle, der man die Zeit durch die absolute Unterteilung in kleinere Zeiteinheiten unterwirft, ist vor dem Hintergrund des Ma-Prinzips nur eine scheinbare. Ausgangspunkt für Sverdrups Urban Scenes-Serie ist das Video Tid i New York (Zeit in New York, 2003), in dem sie, mit durchaus performativem Ansatz, Fragmente des Alltags aneinander fügt. Handlungen der Routine, die ansonsten kaum in bewusster Selbstbeobachtung wahrgenommen werden würden, macht Sverdrup in dezidierter Durchmessung der Zeit für sich selbst und für den Betrachter des Videos bewusst und wahrnehmbar, zum Beispiel indem sie die Schritte in ihrer Wohnung zwischen Alltagstätigkeiten zählt oder die Minuten einer U-Bahn-Fahrt zwischen zwei Bahnhöfen filmt.

 

All dies entpuppt sich letztlich als mehr als eine bloße Dokumentation. Der Zeitmesser in diesem Video sind Kaugummis, die sie, nachdem sie sie verbraucht, d.h. in ungleichen Intervallen „bearbeitet“ hat, durch akkurate Versiegelung und Beschriftung archiviert. Auf diese Weise schafft die Künstlerin eine Laborsituation, in der sie in einem fortlaufenden Experiment Zeit- und Handlungsfragmente neu ordnet bzw. in eine neue Ordnung zu bringen sucht.

 

Die Kumulation scheinbar autonomer Fragmente tritt auch in Sverdrups Zeichnungen zutage. Etwa bei Urban Rorschach: Terrace (2009) hat sie Konturen einer perspektivischen Straßenansicht von freier Hand in Bleistift gezeichnet und durch die flächige Kolorierung der (abermals gespiegelten) Baumreihen überlagert. Die Acrylfarbe hat sie dabei durch Schablonen mit der Rolle aufgetragen und auf diese Weise die Divergenz zwischen Tiefe und Flächigkeit betont. Um sich bewusst zu werden, dass es sich bei dem dargestellten Blattwerk der Bäume um Spiegelungen handelt, ist wieder mindestens der zweite Blick gefragt.

 

Der Titel dieser Zeichnungsreihe, Urban Rorschach, weist auf die Idee hin, die den Spiegelungen, auch denen in den Videowerken, zugrunde liegt: Das Prinzip des Rorschach- Testes, der, von den zufällig generierten Tintenklecks-Faltbildern ausgehend, Assoziationen hervorrufen und so Persönlichkeitsbilder entwerfen soll, wird von Sverdrup als Methode genutzt, mit der sie das zufällige Bild in den Bereich der Kontrolle überführen kann.

 

Für ihr frühes, konzeptuelles Werk Min att göra-lista (Meine „To Do“-Liste, 2001) hat Sverdrup vier „notwendige“ Besorgungen sowie Tag und Ort ihrer Erledigung notiert und jeweils mehrere Stunden, oft einen ganzen Arbeitstag dafür eingeplant. Die Durchführung dieser Erledigungen hat sie anschließend, wie Einträge in einem Tagebuch, schriftlich dokumentiert. Noch zeugt dieses Tagebuch von einem linearen Zeitempfinden, aber bereits Planung und Durchführung der Vorhaben mit absurden Zeitfenstern machen die Suche nach einer neuen Zeit-Erfahrung deutlich.

 

Im Rahmen dieses Werkprojektes dehnte sie beispielsweise, für den Kauf von drei Briefmarken (sic!), ihren Aufenthalt in der Schalterhalle eines Postamts auf rund acht Stunden aus. Während dieser Zeit ergaben sich naturgemäß zufällige, nicht planbare Einzelsituationen (das Verhalten der Schalterbeamten, die Motivauswahl der Briefmarken usw.), die ihr nunmehr als Material zur Verfügung standen, um sie für die kontrollierte Erstellung eines neuen Zeit- und Handlungsschemas nutzen zu können. Bei diesem Werk also kam es zu einem Zusammenspiel oder Gegeneinanderspiel von Kontrolle und Zufall, das bereits hier ein wesentlicher Aspekt für die künstlerische Untersuchung des Zeitempfindens ist.

 

Nun kann man vermuten, Sverdrup überlasse in ihren Videowerken mit ihren ausschnitthaften Betrachtungen, ob visuell oder akustisch, nichts dem Zufall. Der Zufall jedoch ist, so zeigt sich, ihr Ausgangsmaterial, und dadurch, dass sie den Zufall nutzt und ihn vor allem mit künstlerischen Mitteln manipuliert, unterwirft sie diesen ihrer Kontrolle. Der komplexe gedankliche Entstehungsprozess ihrer Werke ist nicht immer und nicht unbedingt unmittelbar ersichtlich, dennoch ist er spürbar, wenn auch nicht auf den ersten Blick.

 

 

Peer Golo Willi

 

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Introduction to the work of NINIA SVERDRUP by Peer Golo Willi – english

NINIA SVERDRUP
Controlled Coincidences and New Realities

 

One can access the work of the artist Ninia Sverdrup in three ways: through reality as an excerpt, through reality derived from image and sound, and through reality in time and space. At the end of these paths one thing always remains: the clash between chance and control.

 

Sverdrup’s video series Urban Scenes (IV-XII, 2005-2011) captures everyday events and occurrences in urban surroundings: on the street, in parks and train stations, at snack stands or gas stations. At first, trivial scenes are simply observed by the camera from a set, immobile position. The shown scene always remains an excerpt of an otherwise fleetingly recorded scenery, which is tracked with persistence. People and cars move within the excerpt, sometimes they appear on a new level as autonomous elements, they disappear again, suddenly, or fade out, as in Urban Scenes XII: Petrol Station (2011).

 

Each of these videos runs as a loop, without the cut being noticeable. The repetition of single fragments of action seems like sequences of vague déjà vu impressions, they turn the scenery into a stage for insouciant games. The absurdity of these contemporary vedute becomes even more fantastical when Sverdrup digitally incorporates the mirrored images of architectural elements, which only catch the eye at second or third glance (Urban Scenes XI: Last Station, 2009).

 

The sound belonging to these video recordings – which one expects to hear when viewing the images due to everyday experience – cannot be heard. Sverdrup reconstructs it in her studio. She works selectively: Only individual sounds such as footsteps, the tinkling of glass bottles, single cars or keys opening doors are recreated, reconstructed and subsequently integrated in the scenes. The sounds that are connected to these events seem concentrated, highlighted, over-present and thus unreal. An especially surprising aspect of this sonic presence is that apparently no consideration is taken for the spatial distance of individual actions:  Things that are seen far in the background are put in the scene’s acoustic foreground, for example the badminton players in Urban Scenes V: Park (2005).

 

At the same time, all sounds from the surroundings are missing, traffic and voices are blinded out. This causes the supposedly disturbing background noise, which is not disturbing in everyday life because it is barely noticed, to reach a new presence through its very absence. The atmosphere that results here paradoxically through its apparent unreality creates a new, concentrated and controlled reality, which directs the viewer’s gaze and perception towards a kind of para-world.

 

The focus lies on the existence of the absent, silence and emptiness. With the alteration of the perception of time and space and the apparent loss of rationality connected to it, emptiness is subjected to revaluation here, which becomes spatial experience over time, and puts temporal experience into perspective.

 

Sverdrup has been engaged with the dimensionality of time and space since early on in her work; with the concept of ma, rooted in Japanese culture and thought for centuries, she has found a term that comes closer to her sensibilities than the traditional Western concepts, as it defines space as non-static and time as non-linear. Ma understands spatial dimensions as part of the temporal dimension and vice versa. In Sverdrup’s work it seems like she wants to follow time to insert it into a given coordinate system of spatial experience as temporal experience. So, this principle is so to speak about the fusion of the temporal level with the spatial, i.e. the visual level.

 

The control that time is subjected to by being spliced into smaller temporal units is only seemingly control in light of the ma concept. The point of departure for Sverdrup’s Urban Scenes series is the video Tid i New York (Time in New York, 2003), in which she compiles fragments of everyday life with a by all means performative approach. Sverdrup makes routine actions that are almost never consciously noticed in self-observation visible for herself and the viewer of the video by determinedly mapping out time, for example by counting the steps between everyday activities in her apartment, or filming the minutes between two stations of a subway ride.

 

All of this emerges as more than simply documentation. The timer of these videos is chewing gum, which after she chewed, that is to say “worked with” in irregular intervals, was meticulously sealed, labeled and archived. This way, the artist creates a laboratory situation in which she reorganizes or seeks to reorder time and action fragments in an ongoing experiment.

 

The cumulation of apparently autonomous fragments also comes to light in Sverdrup’s drawings. Such as in Urban Rorschach: Terrace (2009). She drew the foreshortened outlines of a street view freehand in pencil, and layered the flat painted shape of (again mirrored) rows of trees upon it. The acrylic paint was applied with a stencil roll, highlighting the divergence between depth and two-dimensionality. To realize that the shown foliage of the trees is a mirrored image once again requires a second glance.

 

The title of this drawing series, Urban Rorschach, refers to the idea that underlies the use of mirrored images, also those in the video pieces: the principle of the Rorschach test, (which aims to evoke associations and thus serves to analyse personality profiles based on randomly generated inkblots) is used by Sverdrup as a method to transfer the chance image into an area of control.

 

For her early conceptual piece Min att göra-lista (My To-Do List, 2001), Sverdrup noted down four ”necessary” tasks as well as the day and location of their completion, and planned several hours, often a whole workday for doing them. The completion of these tasks was subsequently documented in writing, like entries in a diary. This diary is evidence of a yet linear perception of time, but the planning and completion of the enterprises in absurd time slots makes the search for a new experiencing of time visible.

 

In the course of this project, for example, she extended the duration of her stay in a post office to eight hours for the purchase of three postal stamps. During this time period, of course, coincidental, unplanned individual situations occured (the behaviour of clerks, the choice of stamps and so on), which then were available to her as material for the controlled creation of a new time or action plan. So, in this piece an interaction or contrast between control and coincidence occured, which already posed a characteristic aspect for her artistic investigation of the perception of time.

 

Now, one might assume that Sverdrup leaves nothing to chance, whether visual or acoustic, in the selective contemplation in her video work. However, it proves that chance is her source material, by using it and manipulating it with artistic means she subjects it to her control. The complex mental origination process in her work is not always  and not necessarily immediately visible, but it is evident, if not at first sight.

 

Peer Golo Willi

 

English translation by Zoë Miller

 

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ninia_sverdrup_entrance

URBAN SCENE XIII: ENTRANCE (2011)

HD video loop 5:19 min
picture format 16:9
audio: stereo
ed 4 (+2AP)

 

Video excerpt

All descriptions

 

Urban Scenes, a series video loops, all with a fixed camera. The camera frames an everyday situation in an urban space that in itself has the character of a movie set. Non of the action is planned. The images are carefully manipulated and all the sound has been added later.

 


URBAN SCENE XIV: CORNER STORE (2012)

HD video loop 20:10 min
picture format 16:9
audio: stereo
ed 4 (+2AP)

Video excerpt
All descriptions

Urban scene XIII:corner store is filmed in fragments from 10 in the morning when the roller
shutters go up, until midnight when the shutters close down. The whole sequence is 20 minutes
long.

Urban Scenes, a series video loops, all with a fixed camera. The camera frames an everyday
situation in an urban space that in itself has the character of a movie set. Non of the action is
planned. The images are carefully manipulated. In corner store some of the original sound is
still there, and some are added later.